Mittwoch, 5. Juni 2013

Gratwandern ...

So gestochen scharf hast du die Sirene am Dach der Schule schon lange nicht mehr gesehen. Es ist kurz vor zwölf und es ist Samstag, du bist in gespannter Erwartung des absolut berechenbaren, tausendmal gehörten Geheuls. Das Stimmengewirr in deinem Wohnzimmer hat dich aufgebracht, die Gefahr, wenngleich nicht drohend, ist latent präsent, irgendwie wie die Sirene.
Doch jetzt stehst du am Fenster, hinter dir wird mit demonstrativer Geschocktheit und sensationslüsterner Hysterie gemutmaßt und angeschuldigt, gefürchtet und gehofft, weil, jetzt wo sie verschwunden ist, offenbaren sich die Abgründe der Kleinstadtseelen. Ob es krank ist, jetzt auch noch all diese Leute, ihre besten Freundinnen und penetrantesten Verehrer einzuladen?
Der Garten liegt vor dir, durch die Geländestufe gleich vor dem Fenster siehst du praktisch aus Löwenzahnperspektive in dieses grüne Reich und ein Gefühl der Geborgenheit macht sich breit. Schon seit deiner frühesten Kindheit war der riesige Gemeinschaftsgarten dein Reich, Rückzugsort und geheime Oase mitten in der Stadt. Als vor einigen Jahren am Nachbargrundstück eingebrochen wurde und daraufhin vier Polizisten, einer sogar in Anzug und nicht in Uniform, die Zäune begutachteten, fühlte sich das derart beklemmend an, dass der Garten von Eindringlingen heimgesucht wurde, und dieses Gefühl, dass dein Paradies ein vielleicht doch nicht unüberwindbarer Rückzugsort, doch nicht der Ort der völligen Narrenfreiheit war, hielt noch Wochen lang an. Dass am Sonntag darauf auch noch die Hasen starben, das bewies nur, dass die Polizisten nie wieder kommen dürften, nie wieder.